Grossvater

Zusammen mit meiner Grossmutter lebt mein Grossvater in einem kleinen Haus in einem Vorort, der immer mehr mit der Stadt verwächst. Hier hat er sein ganzes Leben gewohnt und gearbeitet. Seit einiger Zeit schon findet er, dass das schmucke Häuschen, das er über die Jahre zurecht gemacht hat, nicht mehr in die urbane Umgebung passt. Als er es vor mehr als einem halben Jahrhundert gekauft hat, war es noch vom Wald und einigen Äckern umgeben. Meinem Vater hat er auf dem Hügel hinter dem Haus, auf dem jetzt ein moderner Wohnblock steht, das Skifahren beigebracht. Wie er selbst scheint es aus einer anderen Zeit zu stammen, die nun vorbei ist.

Wenn es draussen regnet langweilt er sich oft weil ihn meine Grossmutter dann aus Sorge nicht aus dem Haus gehen lässt. Er verbringt dann die meiste Zeit in seiner Werkstatt, wo er die meiste Zeit seines Lebens als Maler gearbeitet hat. Der ganze Raum ist vollgestopft mit Kisten und Schachteln in allen möglichen Farben und Formen. In den meisten verbergen sich Fotos und andere kleine Gegenstände, die er über die Jahre aufbewahrt hat. Sie helfen ihm, sich an sein Leben zu erinnern und können ihn stundenlang beschäftigen.

Unterdessen hat ihn die Vergesslichkeit eingeholt. 82 Jahre lang hat es gedauert. Meistens sind es unwichtige Dinge, an die er sich nicht mehr erinnern kann. Der Einkauf in der Migros zum Beispiel. Oder dann das Datum. Freitag oder Samstag? Früher war er sehr verschwiegen, hat nie viel über sich erzählt und seine Meinung stets für sich behalten. Erst seit er uns stundenlang von seiner Jugend erzählt und uns in immer kürzer werdenden Abständen anruft, haben wir gemerkt, dass etwas nicht stimmt.

Bis ins hohe Alter hat es ihn in die Berge gezogen. Das Wandern war eine seiner grossen Leidenschaften - mit Freunden unternahm er unzählige Höhentouren, die ihn durch die Gebirgswelt der Schweiz führten. Er war sehr sportlich, ein Grund, wieso ihn meine Grossmutter mag. 

Immer öfter steht er nun mitten in der Nacht auf und fragt meine Grossmutter nach dem Frühstück. Einmal hat er sich morgens um vier Uhr auf den Bahnhof aufgemacht - er wollte meine Grossmutter mit dem Bus im Spital besuchen gehen.

Manchmal vergisst er, wie schwach sein Körper unterdessen ist. Er fährt dann mit seinem Fahrrad Richtung Land. Dort hofft er, in der Ferne einen Blick auf die Berge zu erhaschen, die er dann auf seinem Zeichnungsblock zu skizzieren beginnt. Er konnte sehr gut zeichnen. Nach einigen Kilometern Fahrt muss er jedoch meistens erschöpft aufgeben. Oft ruft er uns dann an. Meistens schiebt er sein Velo aber stundenlang den ganzen Weg bis nach Hause zurück, wo meine Grossmutter bereits auf ihn wartet.

Mein Grossvater kann aber auch ganz lustig sein. Früher ist mir das nie aufgefallen. Seit kurzem beginnt er uns Witze zu erzählen. Immer sind es dieselben. Er hat dann ein hämisches Grinsen auf dem Gesicht, das uns trotz den sich ständig wiederholenden Pointen zum Schmunzeln bringt.

Was mein Grossvater definitiv nicht kann: Mundharmonika spielen. An Familiengeburtstagen gehen wir jeweils auswärts essen. Heimlich packt mein Grossvater dann eine alte, leicht angerostete Mundharmonika ein, mit der er dann in aller Öffentlichkeit ‚Happy Birthday‘ zu spielen versucht. Um dem Geburtstagskind eine Freude zu machen versteht sich. Vor einigen Jahren hätte er sich das nie getraut, er war sehr eitel und hätte sich bestimmt geniert. Heute ist ihm das egal.